Salvatore Giacomuzzi: Zur Zurechnungsfähigkeit

Last Updated: Dienstag, 24.08.2021By

Die Feststellung der Zurechnungsfähigkeit oder -unfähigkeit – und damit der Schuldfähigkeit – ist stets ein dynamischer Prozess, im Laufe dessen diverse Aspekte einer Tat und deren Umstände sowie die Spezifika der Persönlichkeit des Beschuldigten analysiert, bewertet und gegeneinander abgewogen werden müssen, um schlussendlich zu einem fachlich belegbarem Urteil zu gelangen.

Der § 11 StGB legt die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Zurechnungsunfähigkeit fest. Er definiert, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um eine strafrechtliche Schuld auszuschließen. So heißt es: Wer zur Zeit der Tat wegen einer Geisteskrankheit, wegen einer geistigen Behinderung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, handelt nicht schuldhaft.

Hierbei ist primär zu beachten, dass – wie die Formulierung „… Zeit der Tat…“ implizit fordert – der geistige Zustand des Beschuldigten während der Tat relevant ist (vgl. § 11 StGB). Die Begrifflichkeiten und Definitionen der Störungen beziehen sich in ihrem Aufbau auf das derzeit noch geltende ICD-10 System (International Classification of Diseases, 10. Revision), welches im kommenden Jahr (2021) durch das neue System der ICD-11 abgelöst werden soll. Es ist davon auszugehen, dass dieser Prozess zumindest einige Jahre in Anspruch nehmen wird und eine Zeit lang verschiedenen Diagnosesysteme (ICD-10 und ICD-11 nur ) parallel verwendet werden. Abschließend ist die Erheblichkeit der Beeinträchtigung abzuschätzen. Nicht nur die Diagnose ist ausschlaggebend, sondern es muss ebenfalls ermittelt werden, ob die festgestellte Auffälligkeit gravierend ist und ob sie die soziale Anpassungsfähigkeit beträchtlich beeinflusst.

Der erste Schritt zur Beurteilung muss die Feststellung sein, ob eines der sogenannten Eingangsmerkmale erster Ordnung vorliegt, welche wie folgt wären: Geisteskrankheit, geistige Behinderung, tiefgreifende Bewusstseinsstörung und eine gleichwertige seelische Störung. Die Eingangsmerkmale erster Ordnung werden klinischen Diagnosen zugeordnet.

Wurde eines oder mehrere Eingangsmerkmale erster Ordnung festgestellt, so ist der zweite Schritt der Beurteilung die Feststellung, ob und in welchem Ausmaß die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit beeinflusst war und es erfolgt die Prüfung der Eingangsmerkmale zweiter Ordnung. Es ist etwa zu fragen: Konnte man das Unrecht der eigenen Tat erkennen? Hatte man Handlungsalternativen?

 

Salvatore Giacomuzzi, Wien